In Indien herrschen extreme Gegensätze: Materiell, geistig
und spirituell. Wenn man dieses Land meint verstanden zu haben und endgültig
einschätzen zu können, passiert oft die Aufhebung dieses Urteils. Irgendwie. Vielleicht
nur in einem Satz, oder in einer Situation, scheinbar unbedeutend, doch von so
großer Tragweite.
Indien schafft es, die innere Ordnung total auf den Kopf zu
stellen und alle Pläne, Erwartungen und Ansprüche zu vereiteln. Wenn man sich
dem Land wirklich hingibt auch und vor allem jenseits der touristischen Hotspots
kann man alle Facetten innerer Widerstände, Negativitäten und Abscheu erleben.
Ich zumindest erlebe die innere Achterbahnfahrt immer noch, auch bei meiner
dritten langen Indienreise.
Ich liebe dieses Land und hasse es doch. Es verlangt mir
alles ab, zwingt mich immer wieder zu lieben und nicht zu verachten. Es zwingt
mich immer wieder, meinen Geist zu kontrollieren und nicht von einem
vorschnellen Urteil einnehmen zu lassen. Es zwingt mich, völlig präsent zu
sein, will ich nicht gefressen und ausgespruckt werden.
Ich habe mich niemals in meinem Leben irgendwo so in der
Tiefe gut aufgehoben und geführt gefühlt wie in Indien und nirgendwo fühlte ich
mich je fremder. Es ist diese Vieldeutigkeit, die einen permanenten
Reibungsprozess lodern lässt, in dem große Dinge entstehen können, in dem
Diamanten geschliffen werden können.
Indien ist eine heiße Schmiede der Gotteserfahrung aber auch
ein Vorhof zur Hölle. Wer durch dieses Land wachen Blickes und offenen Geistes
reist, kann sich daran reiben, daran verzweifeln, es verfluchen, es hassen und
in diesen inneren Bewegungen eine Lebendigkeit spüren, die dieses Land in sich
trägt.
Indien ist unfertig, voller Kanten und augenscheinlicher
Widersprüche. Die Ordnung und der Frieden können hier nicht an der materiellen
Oberfläche gefunden werden. Denn da herrscht Chaos.
Im tiefen Inneren aber, und das erlebe ich immer wieder,
wird der Geist durch seine Anpassungsprozesse in einen Zustand der Führung und
des Friedens versetzt, der unvergleichlich ist mit der alltäglichen
Lebensenergie in der westlichen Welt.
Indien bietet eine rohe Begegnung mit dem Leben, in dem
alles Feste und Unflüssige im Geist und Seele gelockert wird.
Hier vergisst man irgendwann was man über das Leben zu
wissen glaubte. Man wird Teil einer Bewegung in der man versteht, dass alles geklappt
hat obwohl es eigentlich nie hätte klappen dürfen. Dass alles in Ordnung ist,
obwohl das Gegenteil sichtbar ist. Dass man in Sicherheit ist, obwohl nirgends
ein Netz ist, das einen auffangen könnte. Dass man dem Leben nah ist, weil der
Tod allgegenwärtig ist.
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